Mein Evangelium, das Wunder der Neuroplastizität (1 von 2)

Evangelium bedeutet übersetzt frohe Botschaft. Gibt es bei euch eine frohe Botschaft, etwas, das euch nach einem schweren Ereignis glauben und hoffen lässt? Bei mir ist es die Neuroplastizität. Ich gebe zu, ich habe mir den Begriff aus dem Glauben ausgeliehen, aber die psychische Wirkung ist bei mir dieselbe. Immer wenn ich durch meine vorhandenen Beeinträchtigungen in ein psychisches Loch gerate, bietet mir das Wissen um die Mechanismen der Neuroplastizität (den Selbstheilungskräften des Gehirns) Halt, Sicherheit und neue Motivation.

Der Klient nimmt in diesem Trainingsprogramm die Rolle eines Sicherheitsbeamten am Flughafen ein. Der Klient soll neben verschiedenen Szenen an gleichzeitig zu beobachtenden Kontrollmonitoren (Schiebetüre am Eingang, Ticketschalter, Gepäcksförderband) auch die Lautsprecheransagen beachten. Auftretende Pannen sollen durch Drücken der Reaktionstaste behoben werden.

Software aus meiner Reha https://www.schuhfried.com/de/cogniplus/trainings/divid/

Vor und kurz nach meinem Schlaganfall hatte ich nur eine diffuse Ahnung von den Selbstheilungskräften unseres Gehirns. In der Reha haben wir uns viel mit Neuroplastizität beschäftigt, allerdings ohne sie direkt beim Namen zu kennen. Dies war z.B. in der täglichen Stunde Neuropädagogik oder den vielen Stunden am Computer in der Psychologie der Fall. Mir hätte es damals für meine Akzeptanz geholfen, wenn ich noch mehr über ihre Mechanismen der ständigen Wiederholung gewusst hätte.

Evangelium (über lateinisch euangelium von altgriechisch εὐαγγέλιον euangélion, deutsch ‚Gute Nachricht‘ oder ‚Frohe Botschaft‘; vgl. Engel) steht für:

Wikipedia

Mein Evangelium und Rettungsanker, Tipp für Neubetroffene

Nach meiner Entlassung aus der Reha habe ich mich dann mit gezielt ihr beschäftigt und sie ist zu meinem mentalen Rettungsanker in einer schwierigen Zeit geworden. Damals habe ich dazu folgenden Beitrag verfasst.

Ewige Baustelle. Unser Gehirn lernt ein Leben lang

Aber wie lange hält ihre Wirkung nach dem Schlaganfall an? Ein halbes Jahr, ein Jahr, zehn Jahre?

Ich habe dazu ein ganz tolles Buch gelesen. Dieses möchte ich euch im nächsten Beitrag vorstellen. Tenor: Das Gehirn verändert sich ein Leben lang und es ist zu erstaunlichen Dingen und Korrekturen in der Lage. Das gilt ausdrücklich nicht nur für kranke Menschen z.B. mit Schlaganfall, sondern für alle Menschen, Kranke wie Gesunde.

Ein kurzer Besuch in der Vergangenheit

Bevor ich dies tue, möchte ich euch in die Vergangenheit entführen. Was haben wir, sagen wir mal 1920 über unser Gehirn gewusst? Was dachten die Menschen zu dieser Zeit über das Organ bzw. die damit verbundenen Krankheiten?

Das zu beantworten, ist gar nicht so schwierig. Es gibt Gott sei Dank noch Antiquariate. Und hier kann man für wenig Geld immer noch Bücher aus dieser Zeit finden und bestellen.

So bin ich bei zvab.de auf das Buch Das menschliche Gehirn von Dr. R. A. Pfeifer (nur mit zwei f) aufmerksam geworden. Kommt mit auf eine kleine Entdeckungsreise in die damalige Welt des Gehirns zwischen 1911 (erste Auflage) und 1917 (zweite Auflage).

Im Vorwort der ersten Auflage von 1911 schreibt er

Das Buch, das ich hiermit der Öffentlichkeit übergebe, versucht zum ersten Mal in gemeinverständlicher Form über die Ergebnisse der modernen Gehirnforschung zu orientieren. Lag es mir auch fern, systematische Vollständigkeit anzustreben, so bemühe ich mich doch, die Auswahl des Stoffes so zu treffen, daß für den Leser ein immerhin abgerundetes Bild von dem Gehirn als Werkstatt entsteht…

Die Neurologie ist eine vergleichsweise junge Wissenschaft. In Deutschland ist die Neurologie um 1845 mit Moritz Heinrich Romberg als ein Teilgebiet aus der Inneren Medizin hervorgegangen. In den USA, in Großbritannien, Russland und anderen Staaten dagegen hatte sich die Neurologie gleich als eigenständiges Fach entwickelt. Auch Sigmund Freud hat anfangs als Neurologe praktiziert.

Man darf nicht vergessen, die Röntgenuntersuchung war Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts gerade erst entdeckt, Hirnströme ließen sich nicht messen, geschweige Computer- oder Kernspintomografie waren überhaupt vorstellbar. Wie sollten man überhaupt in die Köpfe von Lebewesen schauen?

Die wichtigste Frage damals, in welchem Areal des Gehirns findet sich was?

Dr. Pfeifer hat sich also überwiegend mit der Kartierung der Hirnareale beschäftigt. Das Beitragstitelbild habe ich aus seinem Buch entliehen. Hier bediente er sich überwiegend Dünnschnittpräparaten von Fröschen, Hunden und anderen Tieren.

Die Untersuchungstechnik war damals noch ziemlich primitiv und würde heute als Tierquälerei verboten. Fröschen und Hunden wurden Teile des Gehirns entfernt oder zerstört. Dann untersuchte man, welche Fähigkeiten das Tier noch besaß. Hieraus versuchte man diese Fähigkeiten einzelnen Hirnarealen, als Standort zuzuordnen.

Von der Neuroplastizität noch keine Spur

Von der Neuroplastizität findet sich in seinem Buch keine Spur. Das Gehirn wächst im Kopf von Kindern, ist irgendwann statisch ausentwickelt und bleibt unverändert bis zum Tod. Auch neurologische Krankheiten werden nur grob beschrieben. Herr Dr. Pfeifer nennt hier lediglich die Sprach- und Sehstörung. Der Schlaganfall oder die Hirnblutung kommen bei im überhaupt nicht vor. Sehr interessant finde ich jedoch die verwendete sehr bildhafte Sprache aus der damaligen Zeit.

Man höre nur, was es da für sonderbare Krankheiten gibt! Frhr. W. v. Staufenberg behandelte in der Münchener Klinik eine Frau, die war seelenblind geworden.

Gemeint ist hier, dass Dinge nach einer Krankheit erkannt, aber in ihrer Funktion nicht mehr identifiziert werden konnten.

Der Krieg, Vater aller Dinge?

In der zweiten Auflage seines Buches von 1917 schreibt er

Ich stehe momentan als Arzt im Felde und bin außerstande, mein Buch so zu verbessern und zu erweitern, wie es mir am Herzen liegt.

Dr. Pfeifer hat also die Schrecken des Ersten Weltkrieges hautnah selbst erlebt. Sicher auch die exponentielle Zunahme von fürchterlichen Kopfverletzungen, vor denen auch der neu eingeführte Stahlhelm nicht wirklich schützen konnte. Trotzdem fand er noch die Zeit und Motivation mithilfe seiner Frau eine zweite Auflage seines Buches vorzubereiten. Meine Hochachtung dafür. Nun, dieser fürchterliche Krieg hat als einzig positive Facette die Neurologie sicherlich erheblich vorangebracht.

Lest zu dem langsamen Start der Neurologie auch meinen Beitrag

Der lange Aufbruch ins immer noch weitgehend Unbekannte

Auch die Gründung meines Sozialverbands BDH als Verein deutscher hirnverletzter Krieger in Bayern e.V. fand 1920 in dieser Zeit kurz nach dem Krieg statt und hat augenscheinlich mit der hohen Anzahl an neurologisch verletzten Soldaten zu tun.

Im zweiten Teil des Betrags zur Neuroplastizität geht es dann endlich um ihre Entdeckung und meine Buchempfehlung für uns Schlaganfallbetroffene dazu. Bleibt gespannt. Habt ihr weitere Buchempfehlungen zum Thema, die uns Mut mit unserer Krankheit machen könnten? Hinterlast gerne einen Kommentar.

Wenn ihr meine Beiträge nützlich für euch findet, würde ich mich über ein Like oder Abo von euch sehr freuen.

Veröffentlicht von oschlenkert

männlich, 52 Jahre, verheiratet, 1 Kind, mitten im Leben ... und dann kam der Schlaganfall.

4 Kommentare zu „Mein Evangelium, das Wunder der Neuroplastizität (1 von 2)

  1. Ich habe mal das Buch „Neustart im Kopf: Wie sich unser Gehirn selbst repariert“ von Norman Doidge gelesen, fand ich auch sehr interessant

    Das ist auch verfilmt worden:

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  2. Wie Du weißt habe ich mich auch fiesem Thema verschrieben und nutze den Hinweis auf Neuroplastizität explizit um Menschen nach einem SA Mut und Hoffnung zu geben. Natürlich ist das Buch von Norman Doige ganz vorne zu nennen und ich kann Dir fast jedes Buch von Prof.Dr. Manfred Spitzer und Gerald Hürther sehr empfehlen auch als hörbüch etwasfür die Ohrenauch David Eagleman the brainstorming die Geschichte von Dir lohnt sich definitiv

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