Berta Bobath, Berta wer? Eine fast wahre Geschichte

Vor einiger Zeit war ich mal wieder am Maschsee. Komischerweise an diesem Tag ausnahmsweise allein, normalerweise bin ich dort immer mit meiner Frau anzutreffen. Ein wenig Bewegung verschaffen, nach meinem Schlaganfall vor inzwischen fast 3 Jahren.

Ich war auf unserer üblichen Strecke. Aber heute lief es nicht so gut wie sonst. Irgendwie war es ziemlich anstrengend. Müde schleppte ich mich zu den Bänken, an denen wir sonst immer unseren kurzen ersten Halt einlegen. Heute würde dieser Halt sicher länger andauern.

Nach einer Weile bemerkte ich eine ältere Dame auf dem gleichen Weg, den ich vorher gegangen war. Sie fiel mir durch ihren resoluten und zügigen Gang auf. Dabei hatte sie die achtzig sicher schon länger überschritten.

Zielstrebig kam sie auf mich zu. „Darf ich mich zu ihnen setzen?“ Ich bejahte dies, griff neben mich und nahm meine Jacke von der Bank. Die geheimnisvolle Dame setzte sich neben mich.

„Sind sie Linkshänder?“ „Wie kommen Sie darauf?“ Ich schaute sie leicht erstaunt an. „Sie haben ihren linken Arm verwendet, um mir Platz zu machen und ihre Jacke wegzulegen.“ „Ich hatte leider vor fast drei Jahren einen Schlaganfall. Nein, eigentlich bin ich Rechtshänder. Nur, nach dem Schlaganfall verwende ich für alltägliche Handlungen häufig lieber meinen nicht betroffenen Arm.“

„Ich verstehe, ich habe eine gute Nachricht für Sie. Das kann auch nach längerer Zeit immer noch wieder werden.“ Die ältere Dame hatte sich jetzt vollständig mir zugewandt.

„Ca. um 1943 habe ich ein nach mir benanntes Konzept entwickelt. Bei der Behandlung eines Patienten mit Hemiplegie (Halbseitenlähmung) fiel mir auf, dass die mit der Halbseitenlähmung häufig einhergehende Spastik in bestimmten Positionen und Lagerungen nachließ oder sogar vollständig verschwand. In dieser Zeit wurden viele Schlaganfälle überhaupt nicht entdeckt, die wenigsten Menschen sind überhaupt ins Krankenhaus gekommen. Sehr viele sind damals einfach verstorben.“

Die alte Dame sprach mit erregter Stimme weiter. „Das war am Anfang ein ziemlicher Aufreger, da ich mich nur auf Beobachtungen an meinen Patienten stützte und Spastiken zu der Zeit als irreversibel galten“

„Mein Mann Karl war ein Neurologe, erarbeitete daher die neurophysiologischen Grundlagen, um das Konzept wissenschaftlich zu untermauern. Am Anfang haben wir es nur bei Kindern eingesetzt, ab 1960 haben wir mit der Anwendung bei Erwachsenen begonnen.“

„Aus der Neurophysiologie ist bekannt, dass sich auch beim Erwachsenen das Nerven-
system kontinuierlich selbst umorganisiert und synaptische Verbindungen ständig neu
auf-, um- aber auch abgebaut werden können. Diese Fähigkeit des Nervensystems wird als Neuroplastizität bezeichnet.“

Diesen Begriff kannte ich schon. Mir dämmerte gerade etwas. Sollte die ältere Dame Berta Bobath sein, von der ich in meiner Reha schon so einiges gehört hatte? Was für eine Chance für mich hier am Maschsee, mit der berühmten Physiotherapeutin sprechen zu können.

„Haben sie vielleicht ein paar Übungen für mich?“ Ich wollte mit dieser Frage die Gunst der Stunde für mich persönlich nutzen. „Das tut mir leid. Das geht leider nicht. Es gibt bei uns keine fest vorgeschriebenen Techniken oder starre Regeln. Unsere Arbeitsweise orientiert sich an den individuellen Fähigkeiten und Ressourcen der Betroffenen. Das Konzept entwickelt sich laufend weiter und wird den neuesten neurophysiologischen
Erkenntnissen angepasst.“ Ein gewisser Stolz klang dabei aus ihrer Stimme mit.

„Erst einmal geht es um das Beobachten. Und danach um Lernangebote zur Selbsthilfe. Handlungen und Bewegungen im Rahmen der Körperpflege, des An- und Ausziehens
und der Nahrungsaufnahme usw. sind dem Betroffenen aus der Zeit vor der Hirn-
schädigung vertraut. Er hatte dafür bereits Strategien und Bewegungsprogramme. Die Motivation und Orientierung des Patienten ist durch die vertraute, konkrete und lebenspraktisch bedeutsame Situation meistens besser als in abstrakten und fern der Lebenspraxis gestalteten therapeutischen Übungen. Für den hirngeschädigten Menschen stellen gerade diese lebenspraktischen Situationen deshalb ideale Lernangebote dar.

Während der Behandlung lernt der Betroffene unter der Anleitung und
Unterstützung des Therapeuten normale Bewegungsabläufe. Die durch die
Schädigung entstandenen abnormen Haltungs- und Bewegungsmuster sollen
gehemmt werden, damit willkürliche, koordinierte Bewegungen ausgeführt werden
können. Die Schulung der Kopf- und Rumpfkontrolle und Übungen für das
Gleichgewicht stehen im Vordergrund dieser Behandlung. Bei der Haltung, der
Lagerung und der Bewegung des Betroffenen werden nicht physiologische
Bewegungen gehemmt und stattdessen normale Bewegungen angebahnt.
Verschiedene Arten von Anregungen (Stimulation) werden in das gleichermaßen
sensorisch wie motorisch ausgerichtete Training mit einbezogen.“

„Das verstehe ich nicht so recht.“ Ich schaute sie etwas unglücklich an. Zur Erklärung erhielt ich zuerst ein Lächeln und dann ihre weitere Ausführung. „Da aufgrund der Neuroplastizität das Gehirn immer lernt, müssen alle Angebote bewusst
gestaltet werden, um fehlerhafte Lernprozesse zu vermeiden. Jede geplante oder un-
geplante, absichtliche oder unabsichtliche, überlegte oder unüberlegte Tätigkeit am
Patienten ist ein Lernangebot. Das heißt, der
Lernprozess nach dem Bobath-Konzept findet nicht nur während der Therapiesitzungen statt, sondern ist ständiger Bestandteil des gesamten Tagesablaufes“.

Das leuchtete mir ein. Mein persönlicher einfach zu merkender Leitsatz dazu direkt nach meinem Schlaganfall, einfach jede denkbare Übung in meinem Tagesablauf ist Therapie.

„Jetzt muss ich aber wieder los, junger Mann. Ich wünsche Ihnen noch eine schnelle und möglichst vollständige Genesung. Vielleicht noch ein wichtiges Detail zum Schluss.“

Frau Bobath erhob sich von unserer Bank. „Für den Erfolg ist es erforderlich, dass sich jeder Beteiligte an den Prinzipien des Bobath-Konzeptes orientiert. Der Patient selbst, das therapeutische Team und die Angehörigen orientieren sich im Idealfall rundum die Uhr an einem auf einem individuellen Befund basierenden berufsübergreifenden Therapieschema.“

Beim Aufstehen von der Bank bemerkte sie fast mehr zu sich selbst als zu mir. „Na ja, seit dem Karl und ich nicht mehr dabei sind, hat sich in der Akutbehandlung und Rehabilitation ja einiges getan, aber in der Nachsorge nach dem Rehaaufenthalt bleiben immer noch viele Dinge offen und zu kritisieren.

Alle Akteure agieren hier scheinbar unabhängig voneinander. Sie verwalten eher als zu interagieren. Dies kann zu einer zu geringen Versorgung führen. Betroffene isolieren sich dann Zusehens und finden nicht mehr ins Leben zurück, obwohl dies möglich wäre.

Diese Lücke müssen momentan die Angehörigen und Betroffenen möglichst selber schließen. Sie müssen quasi Experten in eigener Sache werden und die Bemühungen der unterschiedlichen Ärzte und Therapeuten hinterfragen und, wenn möglich, durch Engagement und Kreativität verbinden. Ein flächendeckender Einsatz von Schlaganfalllotsen, wie sie von der Stiftung Deutsche Schlaganfallhilfe erfolgreich in Pilotprojekten erprobt wurden, könnte hier ein Teil der Lösung darstellen.“

Ich blickte kurz nach unten. Als ich wieder aufblickte, war die Dame, so plötzlich wie sie gekommen war, wieder verschwunden. Nachdenklich machte ich mich auf den Weg nach Hause. Hatte ich dieses Gespräch wirklich erlebt?

Berta Bobath (1907 – 1991) & Karel Bobath (1906 – 1991) Meine Empfehlung, ihre sehr interessanter Wikipedia Biografie.

Epilog: Über dieses zugeben fiktiv geführte Gespräch mit Berta Bobath habe ich in letzter Zeit viel nachgedacht. Es bot mir die Gelegenheit, mich mit ihren Ideen vertraut zu machen und auf ihre Relevanz in meinem persönlichen Fall zu prüfen. Was würde Berta Bobath zu unserer heutigen Schlaganfallversorgung sagen?

Von vielen Dingen wäre sie sicher begeistert, der Akutversorgung in spezialisierten und fachbereichsübergreifenden speziellen Stationen im Krankenhaus und die anschließende phasenübergreifende Rehabilitation in den nachgelagerten Reha Einrichtungen.

Bei der Nachsorge bin ich mir da nicht so sicher. Hier vermute ich, dass sie die fehlende Abstimmung und Fokussierung zwischen den beteiligten Professionen (von Ärzten, Ergo- und Physiotherapeuten, Logopäden oder Sanitätshäusern) ansprechen würde. Diese wesentliche Absprache und das an einem Strang ziehen aller Beteiligten habe ich aus ihrem Modell als wesentlich für den individuellen Erfolg der Therapie verstanden.

Persönlich habe ich die Erfahrung gemacht, dass Ärzte und vor allem ambulant wirkende Therapeuten wenig miteinander kommunizieren. Das liegt auch in der Natur der Sache begründet. Eine direkte Kommunikation ist mit den heutigen analogen Mitteln nur schwierig möglich und in der Finanzierung der dafür aufgebrachten Zeit nicht vorgesehen. Vielmehr hat sich eher ein Therapieautomatismus eingestellt, in der jeder sein ihm zugeteiltes Budget verwaltet.

Das außergewöhnliche Leben und Wirken von Berta und Karl Bobath kann man in ihrer Wikipedia Biografie nachlesen. Besonders interessant fand ich neben ihren neurologischen Verdiensten zwei weitere Tatsachen. Erstens, wie sie als jüdische Mitbürger in den 1930 Jahren aus Deutschland vertrieben wurden. Dies konnte sie jedoch nicht davon abhalten, auch im Nachkriegsdeutschland als treibende Kraft zu wirken. Abschließend das gemeinsame Todesdatum, an dem beide selbstbestimmt aus dem Leben geschieden sind. Frau Bobath war damit ihrer Zeit nicht nur in neurologischen Fragestellungen weit voraus. Das von mir verfasste Abschlussstatement habe ich Frau Bobath in den Mund gelegt. Es handelt sich daher um meine, nicht ihre Meinung.

Den fachlichen Teil der Geschichte habe ich nicht selber verfasst. Folgende frei im Internet verfügbare Quellen habe ich dabei verwendet.

Quellenangabe
Quellenangabe II

Veröffentlicht von oschlenkert

männlich, 52 Jahre, verheiratet, 1 Kind, mitten im Leben ... und dann kam der Schlaganfall.

2 Kommentare zu „Berta Bobath, Berta wer? Eine fast wahre Geschichte

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