Zimmergymnastik

Am Wochenende habe ich meine Eltern in der Altenpflege in Norden besucht. Der rapide sich verschlechternde Gesundheitszustand meiner Mutter machte dies trotz Coronabeschränkungen unumgänglich. Mein Vater hat mir zwei Fotoalben mitgegeben. Das eine Album behandelt die Dienstzeit meines Opas. Als begeisterter Seemann wurde seine Karriere einerseits durch den Krieg unterbrochen und danach, in den 50ger Jahren, durch einen zu spät diagnostizierten Schlaganfall jäh beendet. Das hatte ich nicht gewusst und hat bei mir einige Fragen aufgeworfen.

Wie hätte meine Schlaganfall-Behandlung damals wohl ausgesehen?

Schon der Transport im Krankenwagen hätte sicher mit einem heutigen Rettungswagen wenig zu tun gehabt. Heute kann mit jeder denkbaren Art von Behandlung oder Diagnostik bereits während der Fahrt begonnen werden, damals dienten sie sicher lediglich dem Transport.

Die Aufnahme im Akutkrankenhaus wäre der nächste große Unterschied. Heute wird der Schlaganfall in der Regel durch eine bildgebende Diagnostik wie eine Computertomographie oder auch eine Magnetresonanztomographie (MRT) des Kopfes festgestellt. Diese Untersuchungen wird sofort nach Einlieferung in das Krankenhaus durchgeführt, denn jede Minute zählt. In dieser Röntgenschichtaufnahme können die Ärzte schon zu Beginn zwischen einer Hirnblutung oder einem Hirninfarkt unterscheiden. Abhängig vom ermittelten Hauptgrund wird dann die weitere Therapie eingeleitet. Eine Methode ist die Thrombolyse (auch „Lyse“ abgekürzt). Dabei wird ein Medikament verabreicht, das das Gerinnsel auflösen soll. Diese Lysetherapie ist nicht für alle Patienten geeignet, zum Beispiel muss eine Blutung im Gehirn ausgeschlossen sein. Früher gab es das alles nicht. Weder bildgebende Verfahren noch Substanzen für die „lyse“.

Eine Stroke Unit zur permanenten Überwachung war damals genauso unbekannt. Lediglich die sicher konsequent umgesetzte Trennung der Geschlechter war für mich ein damaliger Pluspunkt. Mein einwöchiger Aufenthalt in einem 4 Bettzimmer der Stroke Unit der MHH, lediglich durch einen Raumteiler getrennt, verlief quer durch beide Geschlechter und alle Altersgruppen. Das fand ich ziemlich schwierig, hat sich mir aber aus Sicht der Unvorhersehbarkeit jedoch erschlossen.

Im Pflegebereich in Hessisch Oldendorf hatte ich ein Doppelzimmer und in der Anschlussphase ein komfortables Einzelzimmer. Die Verweildauer in der Klinik wird in den 50ger Jahren sprechend deutlich niedriger gewesen sein. Die Unterbringung sicher im 6 oder 8 Bett Zimmer. Ob überhaupt alle infrage kommenden Patienten in spezialisierten Kliniken versorgt wurden, bezweifele ich stark? Der am weitesten entfernt wohnende Patient kam in meiner Reha Zeit aus Würzburg.

Zur weiteren Nachsorge muss ich meinen Vater fragen. Gab es überhaupt schon Physio- oder Ergotherapeuten? Was ich jedoch gefunden habe, sind die Vorläufer entsprechender Übungen. Damals hießt das Ganze ärztliche Zimmergymnastik. Über die Motivation habe ich etwas in einem Lehrbuch um 1900 erfahren. Und diese Aussagen sind meiner persönlichen Erfahrung nach, noch immer total aktuell.

Sie müssen aber, wo sie einmal am Platze sind, mit der festesten Beharrlichkeit fortgeführt werden, in stärkerem Masse da, wo die Summe der übrigen Bewegung eine ungenügende ist. Sie müssen, ebenso wie das tägliche Essen und Trinken, der stehenden Tagesordnung eingereiht, also auch da, wo ein vorliegender spezieller Heilzweck bereits erreicht ist, wiewohl vielleicht etwas modifiziert, fortgesetzt werden. Nur so kann man sich ihres wahrhaft heilsamen Erfolges auf die Dauer versichert halten. Ein so leichtes und kleines Opfer wird jeder Einsichtsvolle seiner Gesundheit gern bringen. Es gehört dazu nur ausdauernder ernster Wille, der freilich den meisten Menschen der Jetztwelt abgeht

https://www.projekt-gutenberg.org/schrebem/zimmergy/zimmergy.html

Veröffentlicht von oschlenkert

männlich, 52 Jahre, verheiratet, 1 Kind, mitten im Leben ... und dann kam der Schlaganfall.

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