Wunderbar wunderlich oder lang vergessenes in Neukölln

Er hieß Herr Wunderlich, seinen Vornahmen habe ich leider vergessen. Er war Referendar an der Realschule Sande. Gleich am Anfang der siebten Klasse bin ich in seinen Fotokurs gegangen.

Unsere Schule hatte ein eigenes Fotolabor. Hier brachte er uns die Grundlagen der Schwarz Weiß Fotografie bei. Ich habe es geliebt. Natürlich hatte ich auch ein Fotolabor zuhause und meine Entscheidung, meine Ausbildung in der Chemie zu suchen, wurde hier sicher auch maßgeblich beeinflusst.

Wenn sich das Bild im Entwickler ganz langsam abzeichnete, das war für mich wie Magie. Das wollte ich unbedingt verstehen. Und diesen speziellen Geruch, den die Bilder nach dem Bad in der Entwickler- und Fixiererflüssigkeit verströmten, werde ich niemals vergessen. Das gesamte Fotolabor verströmte diesen Geruch.

Genau diesen lange nicht mehr erlebten Geruch habe ich am letzten Wochenende ganz plötzlich wieder entdeckt. Auf einem Flohmarkt in Berlin Neukölln. Ein Fotograph machte hier mit seiner 120 Jahre alten Plattenkamera Aufnahmen der Besucher.

Die Besonderheit des Tüftlers. Das notwendige Fotolabor hatte er direkt in den Plattenbereich der Kamera integriert. Die gesamte Naßchemie mit den drei Bädern.

Das belichtete Fotopapier wird dann durch eine Reihe chemischer Bäder geführt:

  • Entwickler: Wie beim Film wird das Bild sichtbar gemacht.
  • Stoppbad: Beendet die Entwicklung.
  • Fixierer: Macht das Foto dauerhaft lichtbeständig.
  • Wasserbad: Entfernt chemische Rückstände.

Nach dem Trocknen ist das fertige Schwarz-Weiß-Bild bereit zur Betrachtung.

Das Blitzlicht hat die KI reingeschmuggelt

Erst erstellte er das Negativ auf einem Fotopapier. Belichtungszeit zwei Sekunden. Damals hätte es noch bis zu 10 Minuten betragen. Deswegen wirken unsere Urgroßeltern so steif auf den Fotos.

Ein Vergrößerungsgerät konnte er auf dem Flohmarkt natürlich nicht verwenden. Deshalb wechselte der findige Tüftler einfach das Objektiv der Kamera und fotografierte es erneut ab. Nach drei Minuten hatten wir unser Bild.

Und ich war um eine Erinnerung aus meiner Jugend reicher. Was aus Herrn Wunderlich wohl geworden ist? Nach einiger Zeit ist er an eine andere Schule gewechselt.

Meine Frau mag unser Foto nicht sonderlich. Ich sehe nach meinem Schlaganfall vor fünf Jahren und unserem viertägigem Berlinbesuch darauf etwas ausgepowert aus. Mich wird dieses besondere Bild immer an den tollen gemeinsamen Berlinaufenthalt und diesen unverwechselbaren damaligen Geruch erinnern. Er steht seit damals stellvertretend für meine Faszination an der Chemie.

Veröffentlicht von oschlenkert

männlich, 52 Jahre, verheiratet, 1 Kind, mitten im Leben ... und dann kam der Schlaganfall.

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