Glaubt ihr ans Schicksal? Ich als ausgebildeter Naturwissenschaftler eigentlich nicht. Aber vielleicht solle ich damit langsam beginnen?
Am Mittwoch habe ich Frau Sabine Lamprecht in einem Webinar der deutschen Schlaganfallhilfe kennengelernt. Sie referierte dort mit zwei anderen Referentinnen über die Vorteile der Neurointensivtherapie. Genau mein Thema.
Frau Lamprecht ist seit 1982 Physiotherapeutin und hat ein Studium Neurorehabilitation abgeschlossen. Für mich aber wichtiger, sie war die Fachkompetenzleitung Motorik aller sechs neurologischen Rehabilitationskliniken Schmieder. Sie hat sicher schon viele von uns gesehen und deren Rehabilitationsfortschritt erlebt und kennt sich in der für uns wichtigen Praxis sehr gut aus.
Frau Lamprecht spricht sich beim Schlaganfall für ein möglichst früh beginnendes Laufbandtraining, Stichwort moderne Gangtherapie, aus. Die möglichst hohe Wiederholung ist dabei durch das motorische Lernen besonders wichtig. Dies kollidiert wohl mit einigen klassischen Lehrmeinungen. Ich habe euch mal hier einen entsprechenden Link für den Originalton von Frau Lamprecht zum Thema eingefügt.
Frau Lamprecht spricht sich dabei sehr für möglichst frühes Laufen auf dem Laufband aus. Dies hätte viele Vorteile. Gegenüber dem Laufen auf dem Boden ginge es immer geradeaus, es gibt keine Hindernisse wie Ecken oder Türen. Der Patient muss nicht vor Hindernissen stehenbleiben, das Laufband bietet die notwendige kontinuierliche gleichmäßige Wiederholung des Ablaufs. Durch gezielte Gewichtsabnahme durch Vorrichtungen am Laufband für den Patienten kommt es zu deutlich mehr Schritte in gleicher Zeiteinheit als vergleichsweise am Boden. Warum das so wichtig ist, sehen wir gleich noch.
Übungen zum Gang auf der Liege würden dies nicht erreichen oder gar ersetzen können. In jedem Land gibt es zu den unterschiedlichen Erkrankungen Leitlinien. Dies sind sozusagen der Stand der Forschung und Behandlung zum aktuellen Zeitpunkt. Und diese Leitlinien bestätigen ihre Aussagen.
Als Bewegungslernen (englisch motor learning) bezeichnet man die relativ dauerhafte Veränderung eines Bewegungsablaufs (Koordinationsmuster der Muskeln) eines Lebewesens, wenn dies durch die Absicht erfolgt, ein bestimmtes Ziel, das man bis dahin noch nicht erreichen konnte, durch diesen Bewegungsablauf zu erreichen (z. B. ein Hindernis überspringen, einen Ball fangen, eine Fremdsprache sprechen lernen oder nach einem Schlaganfall das Gehen wieder erlernen). Dieser Vorgang muss nicht bewusst sein. Auch die Verbesserung eines Bewegungsablaufs (Ökonomisierung, schnellere, flüssigere Ausführung) ist ein Bewegungslernen.
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Für mich klingen ihre Argumente logisch. Meine eigenen Erfahrungen beim wieder laufen lernen bestätigen diese. Am 17.03.20 war mein Schlaganfall. Eine Woche später kam ich im Liegendtransport nach Hessisch Oldendorf. Dort ging es in den Rollstuhl. An laufen war zu diesem Zeitpunkt nicht zu denken.
In der Zeit war gerade die Coronaepidemie. Keiner außer Mitarbeitern kam in die Einrichtung hinein, wir Patienten nicht hinaus. Als ich 10 Wochen später meine Frau zum ersten Mal gesehen habe, bin ich schon wieder am Stock gelaufen. Meine Rollstuhlzeit kennt sie daher gar nicht.
Das mit dem Laufen ging also relativ schnell bei mir. Was könnte auf diese Entwicklung einen Einfluss gehabt haben? Schwer zu sagen, aber diese zwei Faktoren finde ich im Nachhinein sehr wichtig.
In der Rehaeinrichtung Hessisch Oldendorf wurde viel Wert aufs Laufen gelegt. Jeden zweiten Tag sollte es aufs Laufband gehen. Am jeweils anderen Tag sollte man auf dem Ergometer trainieren.
Das war bei mir schwierig, weil ich den Fuß damals noch nicht richtig positionieren konnte und er immer gegen die Pedale stieß. Ich habe mich also einfach jeden Tag am Laufband angestellt. Die Therapeuten haben mich in meinem Rollstuhl auf das Laufband geschoben und los ging es. Möglich wurde dies, weil von den 3 Laufbändern im Trainingsraum eines meist nicht besetzt war.
Letztendlich habe ich wohl fast zweimal mehr Zeit auf dem Laufband verbracht, als dafür eigentlich vorgesehen war. Vielleicht habe ich mich hier instinktiv für das richtige Training entschieden? Oder war es einfach Schicksal.
Abgerechnet wird ganz zum Schluss
Und noch einen zweiten Faktor finde ich in meiner Rehabilitationszeit sehr wichtig. Und für diesen Faktor konnte ich wirklich überhaupt nichts.
Kurz vor Ostern bin ich aus der Phase B in die Phase C gewechselt. Damit verbunden war auch ein Wechsel des Zimmers. Vorher habe ich im kleinen Essensraum der Pflegestation fast direkt neben meinem Zimmer gegessen. Danach musste ich sehr weit gehen, da der Haupteingang in Hessisch Oldendorf gerade umgebaut wurde und das nahe Treppenhaus zu diesem Zeitpunkt abgerissen war.
Es müssen so ca. 500 bis 600 Schritte zwischen meinem Zimmer und dem Speisesaal gewesen sein. Mindestens dreimal am Tag habe ich diese Strecke zurückgelegt. Und zusätzlich kam dazu noch die Bewegung in der Therapie. Damals in der Anfangszeit empfand ich das als Zumutung und tägliche Strapaze. Später habe ich mich daran gewöhnt. Heute bin ich dankbar dafür.
Frau Lamprecht spricht nun davon, dass nach neuen Forschungsergebnissen zum erfolgreichen Gehen mindestens 800 Schritte und mehr nötig sind. Auf dem Laufband möglich, am Boden schwierig zu erreichen. Eine ähnliche Studie, die diese Meinung bestätigt, hatte ich ebenfalls bei der Schlaganfallbegleitung gefunden und euch oben eingeblendet.
Haben die weiten Laufwege in meiner Reha etwas mit einer erfolgreichen Rehabilitation zu tun? Zufall oder Schicksal? Wer weiß das so genau. Was ich aber mit Sicherheit weiß, das mit meinem Schlaganfall hätte auch ganz anders ausgehen können, deutlich schlechter und mit mehr Beeinträchtigungen. Vielleicht hätte ich dann nicht mehr arbeiten können, hätte vielleicht sogar kontinuierlich Pflege benötigt?
Aber vielleicht hätte man meine Rehabilitation auch noch weiter verbessern können? Wenn meine Therapeuten mit mir andere, aktuellere Ansätze verfolgt hätten?
Ich bin dankbar, dass es Menschen gibt, die die vorherrschenden Lehrmeinungen hinterfragen und die Therapien weiterentwickeln wollen. Letztendlich bietet die Wissenschaft Methoden, um diese Ansätze zu überprüfen und damit zu bestätigen oder zu verwerfen.
Ich glaube immer noch nicht an das Schicksal, sondern an Erhebungen und Messungen und immer mehr an den gesunden Menschenverstand, ein selbstbestimmtes Leben und meine persönliche Erfahrungen. Wie geht es euch mit dem Thema Schicksal, Zufall, persönliche Erfahrungen? Hinterlasst gerne einen Kommentar.
Foto von Alina Vilchenko: https://www.pexels.com/de-de/foto/verschiedene-tarotkarten-auf-dem-tisch-3088369/